Wer kennt das nicht?
Ein Wochenende voll Gartenarbeit, einem Freund beim Umzug helfen oder im Sommer ein Tag mit Beachvolleyball und plötzlich spürt man die Schulter.
Es zwickt und sticht beim Heben des Arms, man fühlt sich kraftlos und hilflos. Einfachste Dinge wie eine Jacke an- und ausziehen werden zur Herausforderung.
Das Glas aus dem Oberschrank muss man plötzlich mit der anderen Hand nehmen und Anschnallen im Auto wird auch mühsamer als gewohnt, uvm.
Die erste Anlaufstelle ist bei den Meisten der Hausarzt von dem man hört: „Ja das ist ein Schulter Impingement, beim Heben des Arms zwickts Ihnen die Sehne ein.“
Was Viele daraus schließen ist, dass durch das Heben des Arms mehr Schaden angerichtet wird.
Aber ist das so? Und was steckt wirklich dahinter? - Das erfahrt ihr hier.
Wer leidet oft an Schulter-Schmerzen? [1,2]
Schulterschmerzen zählen zu den häufigsten Beschwerden im Alltag. Es wird angenommen, dass 6-11% der Gesamtbevölkerung an Schulterschmerzen leidet. Allerdings steigt die Prävalenz in der Altergruppe über 50 Lebensjahren auf 16-25%. Zusätzlich weiß man, dass die Häufigkeit in physisch anstrengenden Berufen höher ist.
Es gibt auch zahlreiche gut belegte Risikofaktoren:
Arbeit mit Ellbogen häufig über 90° (Horizontale)
Alter > 50 Jahren
Diabetes Mellitus
Rauchen
Übegewicht
Unter- und/oder Überbelastung
Was sind Diagnosen und Ursachen für Schulterschmerzen?
Dieses Kapitel soll euch nur einen kurzen Überblick über mögliche Ursachen und Diagnosen verschaffen die man häufig hört. Mehr Details zu den meisten Unterpunkten wird es später in eigenen Blog Artikeln geben.
Rund um die Schulter gibt es sehr viele verschiedene Strukturen (Bänder, Schleimbeutel, Muskeln, uvm.)
Einen Überblick zum Aufbau des Schultergelenks, um einzelne Details besser verstehen zu können gebe ich euch im nächsten Absatz.
Häufig werden von Ärzten, Therapeuten oder auch Dr. Google folgende Diagnosen gestellt:
Schleimbeutelentzündung:
Ein Schleimbeutel (Bursa) ist im Körper primär für die Reduktion der Reibung zwischen Geweben verantwortlich. Bei einer Überlastung ist diese „dicker und gefüllter“ als normal und häufig die Ursache für starke Schmerzen.
Riss der Rotatorenmanschette:
Die Rotatorenmanschette ist die Stabilisationsmuskulatur der Schulter und quasi das Herzstück. Ein Riss dieser Muskulatur (meistens der Sehne) ist häufig eine Ursache für Schmerzen und Funktionseinschränkungen.
Schulterblatt Dyskinesie:
Die Basis der gesamten Schulter, ist das Schulterblatt. Dyskinesie bedeutet, dass das Schulterblatt nicht optimal fixiert und bewegt wird. Die Idee ist ähnlich zum Spiel Jenga - irgendwann ist die Basis des Turms so „instabil“, dass alles zusammenbricht.
Diese Theorie unterliegt aber einer stärkeren Kritik! Mehr dazu in einem späteren Blog.
Tendinopathie:
Tendo (lat.) - Sehne
Einfach gesagt handelt es sich hierbei um die Überlastung einer Sehne. In der Schulter sind häufig die Sehnen des Supraspinatus oder Infraspinatus betroffen - Muskeln der Rotatorenmanschette.
Aber auch die Sehne des langen Bizeps ist anfällig für eine Tendinopathie.
Schulter Impingement:
Eine der wohl am häufigst gestellten Diagnosen wenns um die Schulter geht.
Aber was ist das? Bei dieser Diagnose wird angenommen, dass beim Heben des Arms die Sehne und der Schleimbeutel zwischen Oberarm und Schulterdach eingezwickt wird und das zum Schmerz führt.
Mehr Details dazu kannst du im nächsten Kapitel lesen.
Mythos Schulter Impingement? (3-8)
Anatomie
Um die folgenden Punkte besser verstehen zu können ist eine kleine Basis zum Schulteraufbau hilfreich.
Ich probiers so einfach wie möglich zu machen und auf das wichtigste zu reduzieren:
Das Schulterblatt (Skapula) ist die Basis der Schulter und über mehrere Muskeln am Brustkorb fixiert.
Für den restlichen Artikel müsst ihr auch noch das Schulterdach (Acromion) und die Gelenkspfanne (Glenoid) kennen lernen. Das Acromion kann in verschiedenen „Formen“ ausgebildet werden: Flat/ Curved/ Hooked.
Wichtig ist natürlich auch die bereits erwähnte Rotatorenmanschette - insgesamt 4 Muskeln:
Supraspinatus
Infraspinatus
Subscapularis
Terres Minor
Alle 4 starten vom Schulterblatt aus und schlingen sich rund um den Oberarmkopf, sodass sie diesen in der Gelenkspfanne fixieren können.
Das war die absolut minimalste Anatomieausführung die notwendig ist - weiter zur Mechanik.
Idee & Mechanik
Die Erklärung zur Idee des Impingements ist relativ einleuchtend und leicht nachzuvollziehen. Die Mechanik wird mit dem sogenannten Roll-Gleiten erklärt und in zwei Teile unterteilt:
Arthrokinematik: Bewegung die im Gelenk zwischen den Gelenksflächen passiert
Osteokinematik: Bewegung die der Knochen durchführt
Wenn der Arm gehoben wird, sollte der Oberarmkopf auf der Gelenkspfanne nach unten rutschen (weg vom Schulterdacht), um so genügend Platz zum Schulterdach zu erzeugen
Wenn das nicht passiert und der Abstand zwischen den beiden Punkten zu klein wird gibts wegen dem Einzwicken einen Schmerz.
Zusätzlich wird ein Riss der Supraspinatussehne auch oft durch ein Impingement erklärt. Der Gedanke dazu ist, dass durch den ständigen Druck des Schulterdachs die Sehne langsam durchgerieben wird. Ist das Acromion zusätzlich noch eher Curved oder Hooked ist das Auftreten von Problemen noch wahrscheinlicher, weil es schneller zum Kontakt kommt.
Aber stimmt das wirklich so?
Fakten zur Idee & Was passiert wirklich?
Ich würde beinahe soweit gehen und sagen, man weiß nicht genau was wirklich passiert! Es gibt aber Daten aus Studien, welche die klassische Impingement-Sichtweise stark in Frage stellen.
Lass mich erklären warum!
Der Oberarmkopf bewegt bei seitlichen Hebebewegungen des Armes nach oben! Das bedeutet, dass gesunde Schultern genau die Mechanik haben, die anscheinend zum Impingement führt.
Impingement steht in keiner Korrelation zu Tendinopathien! Also der Kontakt zwischen dem Schulterdach und der Rotatorenmanschette ist auch bei normalen, gesunden Schultern vorhanden.
Acromion-Form ist scheinbar nicht so wichtig wie gedacht! Logisch gedacht würde man denken, dass ein stark hackenförmiges Acromion mehr Probleme verursacht und durch eine Operation geholfen werden kann. Es gibt aber keine bestätigte Korrelation zwischen der Acromionform und einem positivem Operations Ergebnis oder der Schmerzintensität bei einer Rotatorenmanschetten-Problematik.
Durch diese Punkte kann man also ableiten, dass das Verhindern des Kontakts zwischen den Strukturen nicht die erste Wahl der Therapie sein muss. Es gibt also Leute die KEINE Schmerzen haben, obwohl ein "Impingement" passiert. Es gibt aber genau so Leute mit Schmerz und KEIN strukturelles Impingement.
Was ist dann das Problem? UND - Was bedeutet das für mich?
Schmerzauslöser sind vielfältig: In der Schulter gibt es unzählige Strukturen die den Schmerz auslösen können. Leider kann man mit Testungen nur sehr schwierig genau sagen was der Auslöser ist. Denn sobald der Arm gezogen, gedrückt, bewegt oder angespannt wird kommen immer alle Strukturen in Belastung. Zusätzlich spielen auch Psyche und soziale Faktoren eine große Rolle, denn wir sind alle keine Maschinen.
Variierende Belastung: Speziell durch die Lockdowns in der Pandemie ist mir immer wieder eine Situation aufgefallen. Personen die normalerweise regelmäßig Sport machen (Tennis, Volleyball, Gym …) werden daran gehindert die gleiche
Training ist effektiv: Speziell mit der Diagnose Impingement sollte Physiotherapie eigentlich die erste Wahl sein. Noch vor Cortison Infiltrationen und Operationen. Oft wird eine subacromiale Dekompression durchgeführt. Die Operation ist aber nicht effektiver als qualitativ hochwertige Physio.
Was kann man selbst machen?
Das wichtigste ist natürlich die Selbsthilfe und wie du deinen Alltag besser meistern kannst.
Hier bekommst du ein paar Tipps, mit denen du eventuell die Beschwerden schon lindern kannst.
An- und Ausziehen:
Vermutlich eine der ersten „Hilfen“ die jeder selbst macht. Wenn das heben und drehen des Arms weh tut, zieh die Jacke/ Pullover/ T-Shirt zuerst auf den schmerzhaften Arm und lass den Anderen die Extrempositionen durchführen.
Schlafposition:
Ein häufiges Problem ist, dass der Schlaf gestört ist und man sich dadurch einfach nicht vernünftig erholen kann. Nimm dir ein großes Kissen oder Deckenrolle und positioniere den schmerzhaften Arm in der Seitenlage auf jenem. Also ob du das Objekt umarmen würdest. Das ist sehr häufig eine schmerzfreie Position.
Sitzposition:
Viele von uns arbeiten den ganzen Tag an einem Tisch. Vielen fällt nicht mal auf, dass die Arme dabei oft nicht abgelegt sind, sondern ständig in der Luft gehalten werden. Schiebe also Laptop, Tastatur etc. Richtung Mitte des Tisches. So können deinen Unterarme gut aufliegen und nehmen die Last von der Schulter.
Bewegung:
Auch wenn viele Bewegungen deinen Schmerz auslösen, sollst du nicht aufhören dich zu bewegen. Experimentiere etwas und such dir Bewegungsrichtungen die ohne Schmerz klappen. (z.B. im Fitnessstudio andere Übungen ausprobieren, häufig sind Ruderübungen ideal)
Auch allgemeine Bewegung wie Spazieren, locker Laufen oder Radfahren sollte nicht zu kurz kommen.
Conclusio
There Is No Impingement: Der Schmerz wird vermutlich nicht durch das Impingement ausgelöst. Das bedeutet, dass das Heben des Armes primär nicht „gefährlich“ ist so wie es auch oft interpretiert wird.
Abstand muss nicht größer werden: Oft kommen Patienten und sagen, dass der Spalt größer werden muss. Durch Training wird man den Spalt zwischen dem Schulterdach und Oberarmkopf aber nicht vergrößern. Muss man aber eben auch nicht!
Physio ist die erste Wahl: Dabei ist aber etwas Geduld notwendig. Das wichtigste ist, dass du nicht denkst alle Probleme innerhalb der ersten Einheit lösen zu können. Verbesserungen müssen oft hartnäckig erarbeitet werden, speziell wenn die Beschwerden schon länger anhalten. 3 Monate solltest du schon investieren und dir und deinem Körper Zeit geben.
Bewegen - Bewegen - Bewegen Wenn du in deinem Krafttraining eingeschränkt bist, probiere einfach andere Übungen bzw lass die Problemübungen einfach weg. Höre auf keine Fall auf zu trainieren, sondern passe das Workout einfach an. Alles andere klären wir in der Physio.
Quellen:
[1] Hodgetts CJ, Leboeuf-Yde C, Beynon A, Walker BF. Shoulder pain prevalence by age and within occupational groups: a systematic review [published correction appears in Arch Physiother. 2022 Jan 10;12(1):3]. Arch Physiother. 2021;11(1):24. Published 2021 Nov 4. doi:10.1186/s40945-021-00119-w
[2] Wærsted M, Koch M, Veiersted KB. Work above shoulder level and shoulder complaints: a systematic review. Int Arch Occup Environ Health. 2020;93(8):925-954. doi:10.1007/s00420-020-01551-4
[3] Huegel J, Williams AA, Soslowsky LJ. Rotator cuff biology and biomechanics: a review of normal and pathological conditions. Curr Rheumatol Rep. 2015;17(1):476. doi:10.1007/s11926-014-0476-x
[4] Liu CT, Miao JQ, Wang H, An Ge H, Wang XH, Cheng B. The association between acromial anatomy and articular-sided partial thickness of rotator cuff tears. BMC Musculoskelet Disord. 2021;22(1):760. Published 2021 Sep 6. doi:10.1186/s12891-021-04639-1
[5] Almokhtar AA, Qanat AS, Mulla A, Alqurashi Z, Aljeraisi A, Hegaze AH. Relationship Between Acromial Anatomy and Rotator Cuff Tears in Saudi Arabian Population. Cureus. 2020;12(5):e8304. Published 2020 May 26. doi:10.7759/cureus.8304
[6] Massimini DF, Boyer PJ, Papannagari R, Gill TJ, Warner JP, Li G. In-vivo glenohumeral translation and ligament elongation during abduction and abduction with internal and external rotation. J Orthop Surg Res. 2012;7:29. Published 2012 Jun 28. doi:10.1186/1749-799X-7-29
[7] Dean BJ, Gwilym SE, Carr AJ. Why does my shoulder hurt? A review of the neuroanatomical and biochemical basis of shoulder pain. Br J Sports Med. 2013;47(17):1095-1104. doi:10.1136/bjsports-2012-091492
[8] Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie: Allgemeine Anatomie und. Bewegungssystem. 4. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2014.
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